Über die Geduld
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Wieder einmal kamen mir diese Worte in den Sinn, als mich vorgestern erneut eine „höhere Gewalt“ an der Umsetzung meines Vorhabens hinderte. Da ich mich seit einigen Tagen wieder rundum fit und gesund fühle, beschloss ich, meine Reise fortzusetzen und ein paar Kilometer durch das Landesinnere gen Süden zu fahren. Nachdem ich alles für die Weiterreise gerichtet hatte, startete ich das Wohnmobil und diverse Lämpchen lachten mich mit ihren gelben Leuchten an:
„Nicht mit mir“, sagten sie mir grinsend und brachten unmissverständlich zum Ausdruck, dass ich mich von meiner Planung verabschieden darf. Das Gelb der Lämpchen sagte mir, dass ich das Fahrzeug noch bewegen darf, jedoch schnellstmöglich eine Werkstatt aufsuchen soll. In der 40 Kilometer entfernten Fiat-Werkstatt diagnostizierte der Mechaniker einen Fehler im Bremssystem, der gestern behoben wurde.
Den
Nachmittag und Abend verbrachte ich in der katalanischen Stadt Vic,
zum ersten Mal seit meiner Abfahrt vor 39 Tagen konnte ich in eine
Stadt eintauchen und das urbane Gewusel genießen. Die vielen kleinen
Begegnungen mit den Katalanen sind es, die mein Wohlgefühl hier
bestimmen – ich erlebe sie als überaus zugewandt, freundlich und
hilfsbereit. Immer wieder stutze ich, wenn ich auf meinen Wegen mit
einem freundlichen „Hola“ oder „Bon dia“ gegrüßt werden,
auch
die
Hilfsbereitschaft ist kaum zu toppen. All
das lässt mich hier gerne sein, noch immer stehe
ich mit
meinem Wohnmobil in
Sant Hilari Sacalm.
Weiterfahren oder hierbleiben? Die Antwort auf diese Frage schenkt mir Rainer Maria Rilke:
Über die Geduld
Man
muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung
lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts
gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist
austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der
Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den
Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter
kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber
er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die
Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man
muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und
versuchen, die Fragen selber liebzuhaben,
wie verschlossene
Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden
Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum,
alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht
allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in
die Antworten hinein.
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Vorlesen lassen:
Ulrich Maiwald "Über die Geduld" von R. M. Rilke
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